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So, 10:18 Uhr
19.11.2017
Erinnerungen von Manfred Neuber

Die Kiepe

Grenzöffnung und Mauerfall am 9. November 1989 öffneten den Weg zur deutschen Einheit. Der frühere WELT-Kollege von Manfred Neuber, Werner Bringmann, löste mit seiner Frage Wann? das vom Genossen Günter Schabowski gestammelte „Unverzüglich, sofort!“ aus. Wie es nach 1945 an der Zonengrenze im Südharz zuging, nachfolgend in Schlaglichtern...


Ein Stoj! im scharfen Befehlston stoppte meinen Versuch, von Mackenrode über die grüne Grenze nach Tettenborn zu gehen. Das war im Herbst 1947, als russische Soldaten die Demarkationslinie im Südharz bewachten. Aus einem Gebüsch trat ein Posten hervor, ließ aber die vorgehaltene Waffe sinken, weil ein zwölfjähriger Junge vor ihm stand.

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Mir wurde bedeutet, ein paar Schritte nach rechts zu gehen und mich in den Straßengraben zu kauern. Dort waren schon einige verhinderte Grenzgänger versammelt. Am frühen Morgen war ich von Nordhausen mit dem „Wüstenschiff“, einem Omnibus französischer Bauart mit Tarnfarbe, nach Mackenrode gefahren. Im Rucksack trug ich einen Wintermantel, den ich meinem Vater in Bad Lauterberg bringen wollte. Beim Schmied in der Ortsmitte konnte ich mein Gepäck in eine Kiepe stecken. So bäuerlich ausgestattet, ging ich durch den Garten den Hang hinauf, parallel zur Landstraße nach Tettenborn.

Die Grenze zwischen britischer und sowjetischer Besatzungszone verlief auf dem Kamm. Nach geraumer Zeit mussten alle aufstehen und eskortiert von zwei Bewachern den Rückweg nach Mackenrode antreten. Als wir durch das Dorf zur Kommandantur am Ortsausgang in Richtung Nüxei getrieben wurden, konnte ich unbemerkt die Kiepe vor der Toreinfahrt zur Schmiede abstellen. Ohne Ballast kletterte ich auf den offenen Militär-Lkw, der alle Festgenommenen nach Lüderode-Weißenborn brachte. Nach einer Nacht im Keller der dortigen Kommandantur und kurzem Verhör am Morgen kam ich frei und konnte mit der Reichsbahn nach Nordhausen zurückfahren.

Im Sommer des Vorjahres waren meine Mutter und ich vor Schreck fast erstarrt, als plötzlich ein russischer Soldat mit Käppi und olivgrünem Umhang vor uns auf dem Feld erschien, das wir von Branderode aus in Richtung der Strasse von Neuhof nach Tettenborn überqueren wollten. Uns hatte sich eine aus dem Rheinland nach Nordhausen evakuierte ältere Dame angeschlossen, die recht resolut auftrat.

Sie redete unverdrossen auf den jungen Russen ein, gab ihm ihr goldenes „Ührken“ (Damenuhr) für seine Babuschka – und o Wunder, wir durften unseren Weg in den Westen fortsetzen. Es gehörte viel Glück dazu, um in den ersten Nachkriegsjahren unbemerkt und nicht gefasst über die Grenze zu gelangen, wenn die in Ost und West geteilte Familie zu Feiertagen zusammenkommen wollte. Für den Zwölfjährigen war das angewandte Heimatkunde: so auf Schleichwegen von Beneckenstein nach Hohegeiß, von Ellrich nach Walkenried oder zum Wiedigshof, von Mackenrode nach
Nüxei oder von Bockelnhagen nach Bartolfelde. Einmal mit dem Fahrrad, im Winter mehrmals mit dem Schlitten. Und immer Angst im Nacken.

Das schlimmste Erlebnis spielte sich einmal im Ellricher Eisenbahn-Tunnel ab. Der Frühzug aus Nordhausen beförderte mehr Grenzgänger als Schichtarbeiter. Ortskundige Führer boten sich am Bahnhof Ellrich an. Angeblich wussten sie über die Wachwechsel genau Bescheid. Also schlossen wir uns einer Gruppe an, die den Schienen westwärts folgte. Mitten im dunklen Tunnel fielen plötzlich Schüsse. Wir drückten uns an eine Wand und verharrten regungslos, bis die Luft wieder rein war. Welch’ große Erleichterung dann in Walkenried!
Manfred Neuber
Autor: red

Kommentare
Andreas Dittmar
19.11.2017, 13.46 Uhr
Danke Herr Neuber
Der Artikel hat mir sehr gut gefallen. Ich lese solche Zeitdokumente gern. Wenn sie mal ein Buch schreiben, kauf ich auf jeden Fall :-)
Bodo Schwarzberg
19.11.2017, 16.51 Uhr
Der Tunnel bei Ellrich-ein Synonym für Gewalt
Er galt wohl als Synonym für die Kriminalität und die verbreitete Rechtsfreiheit vor der Gründung der beiden deutschen Staaten. Dort trafen sich zwielichtige Gestalten, um krumme Geschäfte abzuwickeln, denn schon damals etablierte sich der (materiell) goldene Westen zuungunsten der SBZ als Triebkraft des Übels. Schließlich hatten US-Soldaten mehr Brauchbares und Begehrtes im Gepäck, als die Rotarmisten. Und Schokolade und nochmehr amerikanische Zigaretten waren begehrtes Zahlungsmittel. Schlepper ließen sich von den zahllos umherirrenden Flüchtlingen gut bezahlen und in diesem Milieu waren auch Morde oder zumindest doch Körperverletzung im Tunnel an der Tagesordnung. Da ragte der in die Kriminalgeschichte der Serienmörder eingegangene Rudolf Pleil nur wegen seiner besonderen Brutalität heraus. Bekanntlich hatte er es 1946 und 1947 auf das Ausrauben von Grenzgängern und Flüchtlingen abgesehen. Dabei ermordete er auch im Raum Ellrich mehrere Menschen auf bestialische Weise. In der Haft brachte er sich um. Das Mordwäldchen zwischen Ellrich und Walkenried hat auch wegen des Serienkillers Pleil seinen Namen erhalten. Besonders makaber: Wenige Monate vor Pleil wurden zu Füßen des Mordwäldchens rund 4.000 Menschen im Dora-Außenlager Juliushütte umgebracht. Der Tunnel ist nur wenige hundert Meter entfernt. Irgendwie ist das Mordwäldchen zwischen Ellrich und Walkenried sein Image nie losgeworden. Unweit verlief ab 1949 die deutsch-deutsche Grenze und u.U. konnte man hier von DDR-Grenzern erschossen werden. Um 1995 trieb mit dem Südharzmörder II erneut ein Killer im Gebiet sein Unwesen. Die Fälle wurden spätestens durch die ZDF-Sendung Aktenzeichen xy ungelöst einem breiten TV-Publikum bekannt...
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