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Nnz-Forumsbeitrag

„Unsere Impfsituation ist lebensgefährdend“

Freitag, 15. Januar 2021, 18:06 Uhr
„Vergiss die Alten nicht! Nicht nur die leben, können uns helfen, sondern auch, die gelebt haben.“ Diesen Spruch soll der antike griechische Philosoph Seneca getätigt haben. In unserem Forumsbeitrag bezieht sich ein Leser auf dieses Zitat …

340 Menschen kamen 1962 bei der Hamburger Flutkatastrophe ums Leben. Es hätte viel mehr Tote gegeben, wenn ein gewisser Helmut Schmidt nicht unverzüglich und ohne Gesetzesgrundlage die Bundeswehr zur Lebensrettung eingesetzt hätte. Thüringen hat kaum mehr Einwohner als Hamburg. Im Freistaat sind bislang mehr als 1.500 Corona-Tote zu beklagen. Und was machen wir?

Normalerweise bin ich kein Anhänger von der „schnellen und ach so einfachen“ politischen Lösung. Jede politische Maßnahme zur Erreichung eines Zieles wirkt sich meist negativ auf andere Lebensbereiche aus und sollte daher - zu Recht - wohl durchdacht sein.

Was aber derzeit in Sachen Impfplanung in Deutschland, Thüringen und auch im Landkreis Nordhausen geschieht oder besser: bis heute nicht geschehen ist, grenzt an Totschlag durch Unterlassung und ist menschenverachtend. Die bislang in den Medien und auch hier veröffentlichten Zahlen erlauben den statistischen Rückschluss, dass jede Woche des verspäteten Starts einer groß angelegten Impfkampagne mindestens ein Menschenleben in unserem Landkreis kosten wird. Selbst wenn heute ausreichend Impfstoffe vor Ort vorhanden wären, fehlt es an fast allem diese zeitnah an die Einwohner des Landkreises zu verabreichen.

Die Frage sei daher erlaubt: Steht das Wohl der Menschen oder der politische Erfolg im Vordergrund so mancher Entscheidungsträger? Gerade der Zeitpunkt als auch die Existenz der jüngst entflammten Diskussion um den besten Standort für ein einzurichtendes Impfzentrum, offenbart unser Politikdilemma in der Coronakrise.

Hier ein paar chronologische Fakten zur „Impfsituation“:
  • über die Gefahren des Coronavirus wird seit über einem Jahr berichtet
  • seit etwa zehn Monaten wird regelmäßig über die Entwicklung von Impfstoffen informiert
  • seit Frühjahr 2020 ist bekannt, dass diese Krankheit auch in Deutschland vielen Menschen das Leben kostet und kosten wird
  • seit Spätsommer 2020 wird berichtet, dass die Wissenschaft kurz vor der Entwicklung eines oder sogar mehrerer Impfstoffe steht
  • im Spätherbst/Winter 2020 wurden mehrere Präparate zur Zulassung angemeldet
  • unsere Regierung/EU-Behörden versprachen und vermeldeten, zügig mit den Herstellern die Lieferung von Impfdosen in großer Zahl vereinbart zu haben
  • alle zuständigen Behörden versicherten zu diesem Zeitpunkt, gründlich aber schnellstmöglich die Prüfung durchzuführen und ggf. die Zulassung zu erteilen
  • Anfang Dezember 2020 wurde der Weltöffentlichkeit und der Politik ein möglicher Impfstart noch im selben Jahr bekannt gegeben
  • das erste wirksame und zugelassene Impfpräparat ist seit 22. Dezember 2020 vorhanden, weitere Impfstoffe sind mittlerweile geprüft, zugelassen und angeblich erhältlich
Hier ein paar Fakten zum Impfen gegen den Coronavirus:
  • die Verabreichung dieser Impfung erfolgt mittels Injektionen intramuskulär und ähnlich der Verabreichung von Insulin oder Thromboseprophylaxen, die tagtäglich millionenfach in Deutschland auch von den Patienten selber injiziert werden in jeder Kinderarztpraxis im dritten Stock eines Altbaus darf gegen noch weit gefährlichere Krankheiten als Corona (z. B. Tuberkulose) geimpft werden
  • die Verabreichung solcher Injektionen bedarf keines abgeschlossenen Medizinstudiums oder examinierter pflegerischer Ausbildung, eine dokumentierte gründliche Unterweisung reicht aus
  • die Gefahr sich beim Besuch einer Impfeinrichtung anzustecken, ist bei Einhaltung einfachster Sicherheitsvorkehrungen (Maske, Abstand und Desinfektion der Einrichtungsgegenstände durch Helfer) weit geringer als ein Besuch im Supermarkt oder einer Fahrt mit der Straßenbahn
  • da es weltweit erst seit einigen Tagen Corona-Impfstoffe gibt, ist eine Doppelimpfung nahezu ausgeschlossen; aufwendige Prüfungen, ob Patienten bereits geimpft wurden, entfallen
  • in Israel sind Stand heute etwa 25 Prozent der Bevölkerung bereits geimpft worden: dies entspräche etwa 20 Millionen Deutscher, 500.000 Thüringer oder 25.000 Einwohner unseres Landkreises
  • in Deutschland sind Stand heute etwa ein Prozent der Bevölkerung geimpft worden: dies entspricht etwa 0,8 Millionen Deutscher, 20.000 Thüringer (tatsächlich sind es Stand gestern nur 10.000 geimpfte Thüringer) oder 1000 Einwohner unseres Landkreises (tatsächliche Zahlen des Landkreises sind nicht verfügbar, dürften mangels eines Impfzentrums aber wesentlich niedriger liegen)
Welche vorbereitenden Maßnahmen für eine Impfkampagne wurden parallel zur Bekanntgabe dieser Fakten in unserem Landkreis bis heute ergriffen?

Hier die Situation in unserem Landkreis Nordhausen Stand HEUTE:
  • der erste Impfschutz von wenigstens ein paar geimpfter Personen im Landkreis hätte bereits vorhanden sein können; statt dessen ist die offizielle Anzahl der Personen mit möglich wirksamster Impfung im Landkreis Nordhausen Stand heute: 0; Ursache: kein Impfstoff vorhanden gewesen
  • es gibt keine auf Hochtouren laufende öffentliche Impfstation (fast drei Wochen nach der theoretischen Verfügbarkeit von Impfstoffen) im Landkreis
  • es ist noch nicht einmal der Ort einer (!) öffentlichen Impfstation zweifelsfrei festgelegt worden (ein Jahr nach Bekanntwerden der Pandemiegefahr)
  • es gibt im Landkreis Nordhausen keinen vorbereiteten Personalstamm, um täglich 500 Menschen impfen zu können (viele Wochen nach Anmeldung der Impfstoffe auf Zulassung), dies entspräche einer geplanten Durchimpfung der Bevölkerung binnen eines Jahres
  • die Erstellung von Notverordnungen für Gastronomen, Gewerbetreibenden und Kontaktbeschränkungen von Bürgern sowie die Kontrolle dieser Verordnungen nebst Eintreibung von Bußgeldern erfolgte mit Bekanntwerden der Krankheit zeitnah
  • es gibt aber bis heute keine Notverordnung weder vom Bund, Land oder Kommunaler Ebene mit den notwendigen Sondervollmachten, um schnellstmöglich eine Impfkampagne umzusetzen (Monate nach dem In-Kraft-Treten von Verordnungen zur Kontaktbeschränkung)
  • die zumindest angedachte Errichtung eines Impfzentrums im Nordhäuser „Nordhaus“ wird plötzlich in Frage gestellt
  • ES WERDEN WEITERHIN MENSCHEN AM CORONAVIRUS IM LANDKREIS STERBEN, WEIL SIE NICHT GEIMPFT WURDEN
Was muss die Politik SOFORT tun?
Erlass einer Notverordnung mit zeitlich begrenzten Sondervollmachten vergleichbar mit einer solchen bei schlimmen Naturereignissen, um folgende Maßnahmen zeitnah umzusetzen:
  • Erfassung und Schulung aller bereits für Krisensituationen ausgebildeten ehrenamtlichen Helfer des THW, Malteser Hilfsdienstes, Johanniter-Unfall-Hilfe, Roten Kreuzes, Freiwilligen Feuerwehren sowie aktuell nicht dringend benötigter öffentlich Bediensteter im Landkreis Nordhausen zur Durchführung einer Impfkampagne
  • Nutzung der Infrastruktur (Fahrzeuge, medizinisches Gerät, Stellwände usw.) dieser gemeinnützigen Organisationen und aller kommunalen Einrichtungen zur Umsetzung einer Impfkampagne
  • Verordnung und Anweisung zur Nutzung von mindestens fünf Immobilien (z. B. Kulturhaus Bleicherode, Nordhaus, Wiedigsburghalle, Jugendclubhaus, Heringer Schloss) und sofortige Herrichtung dieser Lokalitäten als Impfstationen
  • Bildung und Ausstattung mobiler Impfteams in ausreichender Zahl für Pflegeeinrichtungen und Hausbesuche
Sobald ein Termin für den Abschluss dieser Vorbereitungen vorliegt, muss die planmäßige Bestellung (aufgrund des wegen der Kühlung zum Teil komplizierten Lieferweges) und Einforderung der Impfstoffe gegen ALLE Widerstände seitens Bund, Land oder Kassenärztlicher Vereinigung erfolgen zeitnahe Information der Bevölkerung über alle Maßnahmen, Orte und Termine besonders hinsichtlich der Impfreihenfolge der Bewohner

Was darf die Politik jetzt NICHT tun?
  • keine weitere Zeit verschwenden
  • die Notwendigkeit von Impfungen diskutieren: wer nicht geimpft werden will, lässt es halt bleiben
  • über die Finanzierbarkeit dieser Maßnahmen diskutieren: Menschenleben sind unbezahlbar, eine Diskussion hierüber ist Zeitverschwendung und angesichts von Milliarden Euro für Hilfszahlungen an Fluglinien menschenverachtend
  • politische Nebenkriegsschauplätze (z.B. Standortdebatten oder Diskussionen über Qualitätsunterschiede von Masken) eröffnen und diskutieren: wer dafür Zeit hat, ist als Helfer in den Impfzentren oder bei der Nordhäuser Tafel herzlich willkommen
  • auf fremde Zuständigkeiten, z.B. Landesregierung, Kassenärztlichen Vereinigung oder niedergelassenen Ärzte verweisen, diese haben ohnehin nicht ausreichend Zeit, Räumlichkeiten oder Personal vor Ort: hier kommt Helmut Schmidt als Vorbild ins Spiel
  • die aktuelle Krise missbrauchen, um Fehlentscheidungen der Vergangenheit zu verschleiern (z. B. das als Flüchtlingsheim unnütz erworbene Gebäude in Rothesütte nun den Bürgern als Quarantänewohnheim gegen Entgelt anzubieten)
„Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte” (aus dem babylonischen Talmud: Traktat Sanhedrin 37a)
Seneca
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Autor: red

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