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Fachtagung zu Wohnungslosigkeit in Nordhausen

Wenn einem das Leben entgleitet

Donnerstag, 07. Juli 2022, 16:00 Uhr
Bevor hierzulande jemand auf die Straße gesetzt wird, muss einiges vorfallen und dennoch kommt es immer wieder vor, dass Menschen ihre Wohnstatt verlieren. Wie das passieren kann und wie man dem am besten vorbeugt, darüber spricht man dieser Tage im Clubhaus…

Die Fachtagung im Clubhaus war heute gut besucht (Foto: agl) Die Fachtagung im Clubhaus war heute gut besucht (Foto: agl)


Wer in Deutschland ohne Obdach ist, der hat sich in der Regel für diesen Lebensweg entschieden. Jeder hat ein Recht auf angemessenen, menschenwürdigen Wohnraum, aber auch ein Recht auf freie Entfaltung. Und sollte die darin bestehen, eben kein Dach über dem Kopf zu haben, dann sind Ämtern und Verwaltungen in den meisten Fällen die Hände gebunden.

Anders sieht es aus, wenn die Obdachlosigkeit nicht freiwillig sondern zwangsweise einsetzt. Gründe gibt es viele, berichtet Jana Geist. Seit 2018 ist sie mit zwei Kolleginnen für das Projekt „ThInka“ in Bleicherode und Sollstedt unterwegs und soll den Menschen im Sozialraum beratend und helfend zur Seite stehen. Das reicht von der Gestaltung des Wohnumfeldes mit Jugendlichen bis zur Einzelfallhilfe in schwierigen Lebenslagen. Letztere kamen in den vergangenen Jahren, da sich das Projekt in der Region einen Namen gemacht hat, immer öfter vor. „Wir beobachten dabei auch vermehrt Fälle von drohender Wohnungslosigkeit. Da gleicht kein Fall dem anderen und einen konkreten Fahrplan, wer wann für was zuständig ist, gibt es nicht. Deswegen haben wir uns entschieden, einen Fachtag mit den relevanten Akteuren aus der Region und Impulsvorträgen zu organisieren.“, erklärt Geist.

Meist sind es aufgelaufene Mietschulden, die letztlich zur Zwangsräumung führen, manchmal ist es auch unakzeptables Verhalten der Mieter, welches dazu führt, dass sie ihre Wohnung verlieren. Die Hintergründe sind vielfältig: Schuldenprobleme, Suchterkrankungen, Beziehungsstreitigkeiten und psychische Probleme können darin münden, dass Leute drohen auf der Straße zu landen. „Manchen Menschen entgleitet das Leben einfach. Die Alltagsstruktur geht verloren und es ist schwer, wieder Fuß zu fassen. Sie gehen nicht mehr raus, Rechnungen werden nicht gezahlt, solche Dinge. Wir hatten eine Dame, die ein Jahr lang ohne Strom gelebt hat. Wir wollen so etwas natürlich möglichst verhindern und arbeiten präventiv, aber wenn es doch passiert, muss man wissen wo man Hilfe finden kann, wo Unterbringungsmöglichkeiten sind und was mit dem Hab und Gut passiert.“

Die Fachtagung im Clubhaus soll sich über zwei Tage mit genau diesen Fragen befassen. Die Thematik ist, wie die meisten Dinge, bei näherer Betrachtung hinreichend komplex. Das fängt schon bei der Unterscheidung zwischen gewollter und gezwungener Obdachlosigkeit an. In der Nordhäuser Stadtverwaltung setzt sich Maritta Schwarzenberger mit diesen Fragen auseinander. Im Jahr 2021 musste man hier 62 Zwangsräumungen durch die Gerichtsvollzieher begleiten werden, soviel wie nie zuvor. Normal seien 30 bis 40 solcher Fälle im Jahr, berichtet Schwarzenberger.

Tritt die erzwungene Wohnungslosigkeit ein, sind es die Ordnungs- und Sicherheitsbehörden der Kommunen, die handeln müssen, also das Ordnungsamt. Der letzte Aufenthalts- oder Wohnort der betroffenen Person spielt keine Rolle, zuständig ist die Gemeinde vor Ort. Vorausgesetzt, der Wille Hilfe und Unterstützung anzunehmen ist vorhanden und die Person ist nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Doch bis es soweit kommt, muss einiges passieren. Bei Mietschulden bestehe häufig eine gute Chance, noch eine Lösung mit dem Vermieter finden, bei einer Kündigung Aufgrund des Verhaltens tendiere die aber eher gegen Null, sagt Schwarzenberger. Vor einer Räumung muss es zu einem Gerichtsverfahren kommen und auch an diesem Punkt bestehe noch die Möglichkeit, die Wohnungslosigkeit abzuwenden, so die Betroffenen denn Handlungsfähig sind.

Diese Handlungsfähigkeit festzustellen oder auszuschließen ist allzuoft eine medizinische Frage, die man im Amt nicht beantworten kann. Und so ist es häufig nicht die eine Stelle, die eine Entscheidung zu treffen hat. Die Stadt Nordhausen hält eigene Unterbringungsmöglichkeiten vor und mietet nicht von Dritten, darunter auch eine „Notschlafstelle“. Hier gibt es allerdings keine Betreuung, sind die Betroffenen nicht in der Lage vollverantwortlich zu handeln, muss die Übernachtung vielleicht in einer medizinischen Einrichtung stattfinden. Unter der Woche erfolgt die Unterbringung während der Bürozeiten, an Wochenenden und Feiertagen rückt der Außendienst des Ordnungsamtes oder auch Kameraden der Berufsfeuerwehr aus, wenn man über den City-Ruf hinzugeholt wird.

Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Asylbewerber etwas hätten keinen Anspruch auf staatliche Unterbringung und bei Minderjährigen ist der Jugendschutz nicht der Sozialdienst zuständig. Im Vorfeld und Nachgang sind Initiativen wie das Projekt „ThInka“ des Kreisjugendrings oder Vereine wie der Horizont, Schrankenlos oder die Caritas involviert und versuchen Hilfe anzubieten und Kontakt zu Vermietern und Behörden zu halten. Viele Spieler in einem komplizierten Feld, die da heute im Clubhaus zusammengekommen sind. Ziel muss es sein, Betroffenen schneller und besser helfen zu können und Wohnungslosigkeit wenn möglich ganz abzuwenden. Die Tagung kommt dabei wohl gerade zur rechten Zeit, denn laut Schwarzenberger sieht es so aus, als werde es im laufenden Jahr noch mehr Fälle geben, als im Rekordjahr 2021.
Angelo Glashagel
Autor: red

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