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eine Gegenrede

Stuhlgang im Theater

Sonnabend, 17. September 2022, 13:30 Uhr
Es war sicher nicht so eine Schlange wie vor dem aufgebahrten Sarg der toten Queen in der Westminster Hall, die sich gestern vor dem Theater Nordhausen gebildet hatte, und es bestand auch ganz sicher nicht die Gefahr, aus dem Stand umzukippen, eher schon konnte man spontan in die Luft gehen oder wahlweise im Drei- oder Viereck springen angesichts der tolldreisten Eulenspiegelei, die sich da ereignet hatte...


Was war geschehen? Ohne allzu viel vorweg zu nehmen: Man kann es sich vielleicht vorstellen wie das Spiel „Reise nach Jerusalem“, mit vielen motivierten Spielern, nur ohne Musik und mit nur einem Stuhl. Oder wie ein Happening, bei dem nichts passiert.

Also: Umgeben von „Jedermann“-Plakaten hatte sich jeder Mann und jede Frau am 16. September auf den Theatertreppen versammelt, welche dem öffentlichen Aufruf des TNLOS! (unter anderem in der nnz) zum Erwerb von Theaterstühlen aus dem 1. und 2. Rang zur Selbstabholung zum Preis von 30 Euro das Stück gefolgt sind.

Weil bereits über die sozialen Medien bekannt war, dass die Nachfrage enorm sein wird und Reservierungen ausgeschlossen waren, hatte sich bereits weit vor dem für 16.00 Uhr annoncierten Verkaufsbeginn eine Schlange aus etwa 50 Kaufinteressenten gebildet.

Natürlich hatte man sich vorher schon gefragt, wie sie das wohl anstellen werden im Theater, denn die Stühle sollten abmontiert an ihrem angestammten Platz stehen und von den Käufern dann selbst von dort abtransportiert werden. Und die Modalitäten der Bezahlung müssen auch irgendwie geregelt werden. Wie verhindert man eventuell Käufe von gewerblichen Kunden in nicht haushaltsüblichen Mengen? Wie sichert man wenigstens grob eine gerechte Verteilung, limitiert man die Anzahl pro Person? Es sind also ein paar Schritte zu bedenken, will man dabei nicht den Überblick verlieren. Keine leichte, aber auf verschiedene Weise gut lösbare Aufgabe.

Manchmal führen Intendanten Regie und manchmal gelingt die Regie auch ohne Drehbuch, wie dem vor wenigen Tagen verstorbenen Regisseur Jean-Luc Godard. Nicht so im wahren Leben, nicht am gestrigen Tag und nicht am Nordhäuser Theater. Dort gab man folgendes Impro-Possenspiel in fünf Akten:

15.00 – 15.54 Uhr: Die Schlangenmutation
Die Schlange hatte zunächst einen Kopf, der sich vor der äußersten linken Eingangstür befand. Der Rest des Körpers wälzte sich girlandenartig seitlich die Treppen hinunter. Warum ausgerechnet an der linken Tür der Kopf entstanden war, lässt sich nicht genau beantworten, wahrscheinlich wie so vieles in diesem Zusammenhang einfach ein Produkt des Zufalls. Ebenso wenig lässt sich exakt rekonstruieren, weshalb 15.54 Uhr wie auf einen gleichzeitigen inneren Befehl die Wartenden sich auf alle Eingangstüren zu und durch diese hindurch bewegten. Am Ende hatte die Schlange mehrere Köpfe bekommen und jeder steckte in einer Eingangstür und ragte von dort aus in das Foyer hinein.

15.54 – 16.03 Uhr: Das Orakel
Dann wieder Stehen. Warten. Nichts. Alle Blicke richten sich erwartungsvoll auf den schweigenden Mann an der Kasse, der in seinem gläsernen Kasten anmutet, als hätte der Papst mit seinem Papamobil in Nordhausen einen Zwischenstopp eingelegt. Irgendwann murmelt er, da würde gleich jemand kommen.

16.04 – 16.06 Uhr: Der erste Auftritt des Intendanten: Epiphania
Dann betritt der Intendant das Geschehen. Er hält einen Stift und einen Papierblock in der Hand, redet in Zimmerlautstärke zu den unmittelbar ihn umgebenden Menschen, notiert sich etwas, schätzungsweise fünf Personen werden eingelassen. Wortfetzen kommen an: „Geht in 10 Minuten weiter“.

16.07 – 16.24 Uhr: Das Nichts
Dann wieder Stehen. Warten. Nichts. Der Mann im Glaskasten ist unwichtig geworden. Alle starren gebannt auf die Tür, aus der die Wiedererscheinung des Intendanten erwartet wird.

16.25 Uhr: Der Schlussauftritt des Intendanten: Die Tröstung
Etwa eine Viertelstunde nach seiner Entrückung erscheint der Intendant wieder und richtet sich sinngemäß mit folgenden Worten an die ungläubige Menge: Es sind alle Stühle verkauft, der erste Käufer hätte bereits 80 Stühle gekauft. Aber zum Trost: In 2024 gibt es eine neue Chance. Schluss, aus, finito, das war‘s! Im Ernst jetzt?!

Nachklapp: Am Seitenausgang konnte man später noch mit dem Großkäufer von einem Privattheater sprechen, der verriet, es sei zuvor abgesprochen gewesen, dass er eine Menge von mindestens 50 Stück abnimmt.

Ja, es sind bewegte Zeiten, andernorts ist Krieg, es droht ein schwerer Winter, es gibt größere Nöte. Dennoch: An den Kopf fassen darf man sich auch im alltäglichen kleinen Leben, wenn etwas zum Haareausreißen ist. Der Intendant kümmert sich als Geschäftsführer um die großen und kleinen Geschäfte des Theaters. Dieser Stuhlgang ist jedenfalls mal tüchtig in die Hose gegangen.
Sebastian Eberhardt
Anmerkung der Redaktion:
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Autor: psg

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