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Sa, 13:30 Uhr
09.03.2019
Relikt der Stadtgeschichte

Ein hölzener Schatz

In seiner über 1000 Jahre währenden Geschichte hat Nordhausen viel Auf und Ab, Fehden, Aufstände und Umstürze erlebt. Was einst tief im historischen Gedächtnis der Bürgerschaft verankert war, ist heute nur den wenigstens bekannt, auch weil vieles verloren gegangen ist. Vieles, aber nicht alles. Ein ganz besonderes Relikt der Stadtgeschichte hat die Kunsthistorikerin Jessica Sophie Müller jetzt "wiederentdeckt"...

Die Kunsthistorikerin Jessica Sophie Müller hat sich eingehend mit dem Chorgestühl des Nordhäuser Domes befasst (Foto: Angelo Glashagel) Die Kunsthistorikerin Jessica Sophie Müller hat sich eingehend mit dem Chorgestühl des Nordhäuser Domes befasst (Foto: Angelo Glashagel)

Wir schreiben das Jahr 1324 und in Nordhausen herrscht Aufruhr. Die Bürgerschaft probt den offenen Aufstand, man stürmt das Haus des Bürgermeister Thilo und treibt eine ganze Reihe der hohen Ratsmitglieder aus der Stadt. Die Domherren schalten sich ein, ergreifen die Sache der Vertriebenen und werden vom Zorn der Masse ebenfalls hinweggetrieben.

Der Pöbel drang in die Häuser und Höfe der Domherren, mißhandelte, vertrieb sie, verwüßtete riss nieder. Vom Domstift aus ging es vor die Judenschule. (...) So ward auch die Synagoge geplündert, die Juden wurden mißhandelt und fortgetragen ward alles, "was sie seit langer Zeit zusammengescharrt". So revolutionierte das Volk gegen alle Welt, gegen König und Herrn draußen, gegen Geistliche und Besitzende drinnen. So schildert Hans Silberborth die Geschehnisse des Jahres 1324 in seiner Stadtchronik, dem "tausendjährigen Nordhausen".

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Der Finale Auslöser der Streitigkeiten war ein schwelender Konflikt um die Errichtung einer weltlichen Schule, ein klarer Bruch des Bildungsmonopols der katholischen Kirche. Für Silberborth ist der Zwist zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein Ausdruck des erwachenden Bürgertums, das sich frei machen will von den Zwängen der Geistlichkeit und der hohen Herren, deutliche Zeichen eines neuen Selbstbewusstseins, der Gedanke vom "Eigenwert der Welt" stehe hier empor, schreibt der Historiker, eine Entwicklung die zum Protestantismus habe führen müssen.

Für die Bürgerschaft geht der Konflikt nicht gut aus. In der geistlichen Hierarchie stehen über den Domherren nur der Erzbischof in Mainz und der Papst höchstselbst. Der Mainzer legt das Interdikt auf die Stadt, eine der schwersten Strafen in diesen tiefgläubigen Zeiten, die das Seelenheil aller Bürger bedroht. Vor den Toren der Stadt machen die Vertriebenen gemeinsame Sache mit weltlichen Widersachern, die Grafen von Hohenstein bedrängen die Stadt, verwüsten ihre Felder und lauern Händlern, Bauern und Boten auf. Es droht Hungersnot und schließlich gibt die Bürgerschaft nach. Die vertriebenen Geistlichen kehren mit Kreuzen und Fahnen in festlichem Umzug in die Stadt zurück, der Bau der bürgerlichen Schule wird verboten, die Domherren behalten ihre Steuervorteile und ihre eigene Gerichtsbarkeit.

Der Konflikt mündet 1329 in der "Schlacht vor den Barfüßern". Mit Hilfe des Hohnsteiners nehmen die vertriebenen Ratsherren das Altentor und drängen in die Stadt. In der Barfüßerstraße stellt sich ihnen die wehrhafte Bürgerschaft entgegen und kann die Eroberung der Stadt abwenden. Einige der Verteidiger, darunter auch der Bürgermeister, fallen. Ihnen zu Ehren werden die Nordhäuser auf Jahrhunderte hinaus das alljährliche Spendefest feiern.

Stadtgeschichte damals und heute

All das hat in Nordhausen einmal zur Allgemeinbildung gehört. Das Wissen um die eigene Geschichte war Ausdruck des selbsbewussten Bürgertums, ein Stück Identität. Heute ist die Zahl derer, die sich in den weitverzweigten Wirren von über 1000 Jahren Stadtgeschichte auskennen, überschaubar.

Dabei gibt es durchaus noch neues zu entdecken, oder vielmehr neue Schlüsse aus den kargen Überresten der noch sichtbaren Historie zu ziehen. Und hier tritt dieser Tage Jessica Sophie Müller auf den Plan. Die junge Nordhäuserin hat in Göttingen Archäologie und Kunstgeschichte studiert und sich intensiv mit einem der ältesten Nordhäuser Schätze befasst: dem Chorgestühl des Domes.

Ein hölzerner Schatz

Das Kunstwerk aus Eichenholz wurde um 1380, also einige Jahre nach den oben beschrieben Ereignissen, im Dom aufgestellt. Sowohl ihre dendrochronologischen Untersuchungen wie auch die stilistische Analyse passen auf die Zeit, erzählt Müller, die Bedeutung des Chorgestühls entspringe aber weniger seinem Alter, als vielmehr dem, wofür es stehe und aus der Art und Weise, wie dieses Ziel künsterlisch umgesetzt wurde.

Die plastischen Darstellungen des Chorgestühls sind ungewöhnlich groß und für die Zeit nahezu naturalistisch (Foto: Angelo Glashagel) Die plastischen Darstellungen des Chorgestühls sind ungewöhnlich groß und für die Zeit nahezu naturalistisch (Foto: Angelo Glashagel)

Die plastischen Darstellungen des Chorgestühls sind ungewöhnlich groß und für die Zeit nahezu naturalistisch

Denn mit dem Sieg vor den Barfüßern sind die Konflikte zwischen dem sich in perpetuum erneuernden Ratsregiment der Geschlechter, dem Kleinbürgertum und der Geistlichkeit keinesfalls beigelegt. 1375 brodelt es erneut auf Nordhausens Straßen. Ständige Fehden, Geldverschwendung und hohe Steuerlasten lassen die lang aufgestaute Wut hochkochen. Als Reaktion auf den lauter werdenden Protest lassen die Ratherren die Tore der Stadt verriegeln und drohen damit, "der gemeinen Bürger also viel auf Räder (zu) setzen, das alle Räder in der Stadt nicht hinreichen sollen". Man bangt hier wie da um Leib und Leben. Als sich der Rat im Haus des Thilo von Tettenborn einfindet, schreiten die Kleinbürger schließlich zur Tat. Es kommt zum "Sturm auf das Riesenhaus", ein weiteres einst wohlbekanntes Kapitel der Stadtgeschichte mit weitreichenden Folgen.

Den Domherren geht es dieses mal nicht an den Kragen, doch in der Stadt herrscht von nun an ein neues Regiment. Nur wenige Jahre nach der "kleinbürgerlichen Revolution" errichtet man im Dom das prächtige Chorgestühl. Für Jessica Müller ist das kein Zufall sondern ein Ausdruck geistlicher Legitimation, wie man ihn so zu dieser Zeit nirgend sonst in Europa findet. "Zum einen haben wir die räumliche Abtrennung. Das Chorgestühl steht erhöht, wenn Sie vor dem Altar stehen, können Sie sehr genau erkennen was hier dargestellt wird. Der überreiche, plastische Schmuck ist in seiner Form und vor allem seiner Größe ganz außergewöhnlich. Die Bilder stehen eindeutig im Vordergrund. Der Gegenstand wird zum
repräsentativen Bildmedium, was hier gezeigt wird, das sollte jeder sehen", erläutert die Kunsthistorikerin.

Spätmittelalterliche Propaganda

An vorderster Front wird das Chorgestühl von den beiden Gründungsfiguren der Stadt, König Heinrich I. und seiner Frau, der heiligen Mathilde, geziert. Auf den folgenden "Wangen" sind die vier Kirchenväter prominent dargestellt, ein Novum für die Zeit. "Sie repräsentieren die heilige Schrift und ihre Verbreitung. Ihre Vererhung war zu diesem Zeitpunkt kaum 130 Jahre alt. Im Mittelalter also geradezu modern.", erklärt Kunsthistorikerin Müller. Ihnen folgt eine weitere Personengruppe, die hier eigentlich nichts zu suchen haben sollte. Es sind die "Kanoniker", Geistliche die beim Zeremoniell der Messe gezeigt werden. "Diese Art der Darstellung des Klerus kommt einer Selbstverehrung gleich, das hat es vorher und nachher so nie wieder gegeben", sagt Müller, Nordhausen habe hier tatsächlich etwas Einzigartiges. "Die Bürgerschaft hatte wenig Respekt vor dem Klerus. Der Legitimationsdruck gegenüber den Gläubigen in Nordhausen muss enorm gewesen sein, im Grunde sagt man mit der Darstellung: wir müssen und wir dürfen hier sein". In gewisser Weise sei das Chorgestühl damit auch eine Art Gegenentwurf zum Nordhäuser Roland. Hier die weltliche Gerichtsbarkeit und Eigenständigkeit, dort die geistliche.

Wer das Gestühl geschaffen hat, weiß man bis heute nicht, das Geschick des einzelnen Künstlers war damals noch nicht von Belang. Mindestens zwei Schnitzmeister haben an dem Werk gearbeitet, vermutet die Kunsthistorikerin, und dabei Elemente des französisch-rheinischen und des niedersächsisch-östlichen Stils vereint. Die figuarlen Darstellungen sind zudem direkt der Buchmalerei entlehnt, ein weiteres Novum. "Das Chorgestühl wurde schon mehrfach kunsthistorisch untersucht, aber immer nur in Teilaspekten, ohne das große Ganze wahrzunehmen. Das ist ein echter, hölzener Schatz, dessen wahren Wert man bis heute nicht angemessen gewürdigt hat", sagt Jessica Müller.

Kanoniker im Chorgestühl - eine Art der Selbtverehrung (Foto: Angelo Glashagel) Kanoniker im Chorgestühl - eine Art der Selbtverehrung (Foto: Angelo Glashagel)

Kanoniker im Chorgestühl: eine Art der Selbstverehrung

Einen Versuch das zu ändern will sie demnächst sellbst wagen: am 26. März wird Frau Müller ab 18:30 Uhr einen ausführlichen Vortrag zu ausgewählten Aspekten und Erkenntnissen ihrer Forschungsarbeit rund um das Chorgestühl des Nordhäuser Domes in der Kreisvolkshochschule in der Grimmelallee halten. Nähere Inforamtionen zum Vortrag und zur Anmeldung gibt es unter 03631/60910 oder 609127. Der Eintritt beträgt vier Euro und wird vor Ort erhoben.
Angelo Glashagel
Autor: red

Kommentare
Latimer Rex
09.03.2019, 14.28 Uhr
Müller/Stolze Historie
Vielen Dank für diese spannende Wochenend-Lektüre.
Die Schilderungen aus dem Mittelalter lesen sich wie
ein Krimi. Die Beschreibung des Dom-Reliktes ruft die
stolze Vergangenheit der ehemaligen Freien Reichsstadt
in Erinnerung.
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