So, 09:52 Uhr
31.03.2019
Historisches: Nordhäuser OB mit kürzester Amtszeit
Parteibuch galt mehr als Fachwissen
Ehrenrettung für den früheren Nordhäuser OB mit der wohl kürzesten Amtszeit: Dr. Richard Senger war kein Versager, sondern politisch nicht mehr genehm, nachdem im Juli 1945 die Rote Armee die US-Truppen als Besatzungsmacht in Nordhausen abgelöst hatte...
Der gebürtige Nordhäuser wurde am 16. Juni auf Empfehlung der Stadtverordneten von der amerikanischen Militärbehörde ins Rathaus gerufen. Er löste Otto Flagmeyer ab, der nach dem Kriegsende und der Zerstörung Nordhausens durch britische Luftangriffe zu Ostern ein schweres Erbe angetreten hatte.
Weil der Sozialdemokrat mit dem Antifaschistischen Ausschuss angeblich nicht zusammengearbeitet habe, hätten ihn die Kommunisten aufs Schärfste abgelehnt, hieß es damals. Captain William A. McElroy, der amerikanische Stadtkommandant, umriss in einem Memorandum die Aufgaben und Pflichten des neuen Stadtoberhauptes.
In einem Aufruf appellierte Senger an die Bevölkerung, bis zum 27. Juli alle Straßen in Nordhausen von Trümmern zu räumen. Der aus Naumburg in seine Heimatstadt gerufene Rechtsanwalt trat zwar mit großen Versprechen das Amt an, aber erfüllte die Erwartungen nicht, urteilte Leni Arnold noch 2016 in einem Beitrag über den Wiederaufbau Nordhausens.
Die Lage in Nordhausen sei katastrophal, berichtete am 17. Juli 1945 der spätere Regierungsbeauftragte für den Wiederaufbau, Dr. Karl Schultes, dem Landespräsidenten Rudolf Paul in Weimar. Senger lasse jede Aktivität vermissen. Bei der radikalen Stimmung in Nordhausen seien scharfe antinazistische Maßnahmen für den Arbeitseinsatz nötig. Sengers Inkonsequenz gegenüber Nazis wachse sich immer mehr zu einem öffentlichen Skandal aus.
Ausschlaggebend für die Ablösung des Liberalen war wohl: Der sowjetische Stadtkommandant lehne Senger als früheres DVP- und Stahlhelm-Mitglied (Bund der Frontsoldaten) ab und stehe auf dem Standpunkt, Nordhausen brauche einen sozialistischen Bürgermeister, mindestens aber einen entschiedenen und aktiven Antifaschisten.
So die Darstellung in dem Schulte-Bericht. Der Nordhäuser Jurist wurde dann selbst am 31. Juli zum OB und Landrat ernannt. Tatsächlich gab es keine sachlich-fachlichen Gründe für die Ablösung Sengers;
denn er wurde am 1. November 1945 zum Leiter der Präsidialkanzlei in Weimar berufen und fungierte danach als Chef der Hauptabteilung A im Präsidialamt.
Ironie der Geschichte: Am 1.Juni 1946 wurde Schultes sein Nachfolger auch auf diesem Posten, nachdem er in Nordhausen in heftigen politischen Gegensatz zu den örtlichen kommunistischen Funktionären geraten war. Nach eigenen Angaben (Bericht an das Sozialamt Düsseldorf) trat Schultes im September der KPD bei, aber nur deshalb, weil diese 1945 für eine konsequente Entnazifizierung und Beseitigung des nazistischen Militarismus, für Bodenreform und Sozialisierung eintrat. Damals hat die KPD ausdrücklich die Übernahme des Sowjetsystems für Deutschland abgelehnt und sich für ein Mehrparteien-System im Rahmen parlamentarischer Demokratie erklärt.
Enttäuscht floh er im Dezember 1950 in den Westen.
Nach Notabitur in Nordhausen als Kriegfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und Jura-Studium in Halle kam Senger in den zwanziger Jahren als Justitiar nach Berlin und als Anwalt an das Oberlandesgericht in Naumburg. In der Weimarer Republik war er Mitglied der liberalen Deutschen Volkspartei (DVP). Er lehnte den Nationalsozialismus entschieden ab und votierte in öffentlicher Abstimmung auf dem Thüringer Juristentag 1933 gegen den Ausschluss jüdischer Berufskollegen. Parteilos im Dritten Reich, trat er 1945 der LDP bei.
Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1940 als Hauptmann der Reserve eingezogen. Bis 1945 stand er an der Ostfront. Senger führte eine Nachschub-Einheit. In der Schlussphase des Krieges gelang es ihm, mit seiner Truppe nach Westen abzurücken und so in US-Gefangenschaft zu geraten. Unbelastet von Verbrechen des Dritten Reiches wurde er schon Mitte Mai 1945 entlassen. Bald darauf kam er mit seiner Familie von Naumburg nach Nordhausen.
Nach der Tätigkeit in Weimar wirkte er bis 1948 als Rechtsanwalt und Notar in Nordhausen. Wie viele andere verließ er die Sowjetzone und ging mit seiner Familie 1948 nach Düsseldorf. Auch dort hatte er eine Anwaltskanzlei bis zu seiner Pensionierung 1962. Für die FDP fungierte er von 1951 bis 1962 als Beigeordneter der Stadt Düsseldorf (Dezernent für Verkehr, Ordnung und Schulen), vorher von 1949 bis 1951 als Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes.
Allein diese Funktionen in Weimar und Düsseldorf belegen, welch’ hohe berufliche Reputation Senger hatte. Die negativen Äußerungen über seine Rolle als Nordhäuser OB waren von klassenkämpferischer Rhetorik geprägt, die auch in späteren Veröffentlichungen in den DDR-Jahren durchschlug. Letztlich dienten sie nur als Vorwand, um ihn und andere Vertreter des reaktionären Bürgertums aus allen Positionen zu verdrängen.
Über die Umstände der Absetzung soll ein Sohn Sengers – wie Peter Kuhlbrodt im Heft Nordhausen unter dem Sternenbanner schildert – berichtet haben: Der russische Kommandant zu Dr. Senger: ‚Ihre Stadt ist nicht in Ordnung.’-
‚Das weiß ich, sie ist zu 80 Prozent zerstört.’ - ‚Innerhalb von drei Wochen müssen Sie die Aufräumarbeiten durchgeführt haben!’ –
‚Das kann ich nicht!’ –
‚Wir können nicht nur erschießen, wir können auch hängen!’ –
‚Dann müssen Sie mit mir anfangen. Aber das bringt der Stadt auch keine Hilfe’.
Das Gespräch endete mit den Worten: Wo steht Ihr Dienstwagen? Sie können die Schlüssel gleich dalassen. Am Ende seiner kurzen Amtszeit äußerte Senger am 20. Juli:Die Abschnürung des Nordhäuser Wirtschaftsgebiets von der Westzone Deutschlands bedeutet eine ernste Gefahr für jeden Wiederaufbau und muß baldigst aufgehoben werden, wenn große Schwierigkeiten vermieden werden sollen. Manfred Neuber
Autor: redDer gebürtige Nordhäuser wurde am 16. Juni auf Empfehlung der Stadtverordneten von der amerikanischen Militärbehörde ins Rathaus gerufen. Er löste Otto Flagmeyer ab, der nach dem Kriegsende und der Zerstörung Nordhausens durch britische Luftangriffe zu Ostern ein schweres Erbe angetreten hatte.
Weil der Sozialdemokrat mit dem Antifaschistischen Ausschuss angeblich nicht zusammengearbeitet habe, hätten ihn die Kommunisten aufs Schärfste abgelehnt, hieß es damals. Captain William A. McElroy, der amerikanische Stadtkommandant, umriss in einem Memorandum die Aufgaben und Pflichten des neuen Stadtoberhauptes.
In einem Aufruf appellierte Senger an die Bevölkerung, bis zum 27. Juli alle Straßen in Nordhausen von Trümmern zu räumen. Der aus Naumburg in seine Heimatstadt gerufene Rechtsanwalt trat zwar mit großen Versprechen das Amt an, aber erfüllte die Erwartungen nicht, urteilte Leni Arnold noch 2016 in einem Beitrag über den Wiederaufbau Nordhausens.
Die Lage in Nordhausen sei katastrophal, berichtete am 17. Juli 1945 der spätere Regierungsbeauftragte für den Wiederaufbau, Dr. Karl Schultes, dem Landespräsidenten Rudolf Paul in Weimar. Senger lasse jede Aktivität vermissen. Bei der radikalen Stimmung in Nordhausen seien scharfe antinazistische Maßnahmen für den Arbeitseinsatz nötig. Sengers Inkonsequenz gegenüber Nazis wachse sich immer mehr zu einem öffentlichen Skandal aus.
Ausschlaggebend für die Ablösung des Liberalen war wohl: Der sowjetische Stadtkommandant lehne Senger als früheres DVP- und Stahlhelm-Mitglied (Bund der Frontsoldaten) ab und stehe auf dem Standpunkt, Nordhausen brauche einen sozialistischen Bürgermeister, mindestens aber einen entschiedenen und aktiven Antifaschisten.
So die Darstellung in dem Schulte-Bericht. Der Nordhäuser Jurist wurde dann selbst am 31. Juli zum OB und Landrat ernannt. Tatsächlich gab es keine sachlich-fachlichen Gründe für die Ablösung Sengers;
denn er wurde am 1. November 1945 zum Leiter der Präsidialkanzlei in Weimar berufen und fungierte danach als Chef der Hauptabteilung A im Präsidialamt.
Ironie der Geschichte: Am 1.Juni 1946 wurde Schultes sein Nachfolger auch auf diesem Posten, nachdem er in Nordhausen in heftigen politischen Gegensatz zu den örtlichen kommunistischen Funktionären geraten war. Nach eigenen Angaben (Bericht an das Sozialamt Düsseldorf) trat Schultes im September der KPD bei, aber nur deshalb, weil diese 1945 für eine konsequente Entnazifizierung und Beseitigung des nazistischen Militarismus, für Bodenreform und Sozialisierung eintrat. Damals hat die KPD ausdrücklich die Übernahme des Sowjetsystems für Deutschland abgelehnt und sich für ein Mehrparteien-System im Rahmen parlamentarischer Demokratie erklärt.
Enttäuscht floh er im Dezember 1950 in den Westen.
Nach Notabitur in Nordhausen als Kriegfreiwilliger im Ersten Weltkrieg und Jura-Studium in Halle kam Senger in den zwanziger Jahren als Justitiar nach Berlin und als Anwalt an das Oberlandesgericht in Naumburg. In der Weimarer Republik war er Mitglied der liberalen Deutschen Volkspartei (DVP). Er lehnte den Nationalsozialismus entschieden ab und votierte in öffentlicher Abstimmung auf dem Thüringer Juristentag 1933 gegen den Ausschluss jüdischer Berufskollegen. Parteilos im Dritten Reich, trat er 1945 der LDP bei.
Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1940 als Hauptmann der Reserve eingezogen. Bis 1945 stand er an der Ostfront. Senger führte eine Nachschub-Einheit. In der Schlussphase des Krieges gelang es ihm, mit seiner Truppe nach Westen abzurücken und so in US-Gefangenschaft zu geraten. Unbelastet von Verbrechen des Dritten Reiches wurde er schon Mitte Mai 1945 entlassen. Bald darauf kam er mit seiner Familie von Naumburg nach Nordhausen.
Nach der Tätigkeit in Weimar wirkte er bis 1948 als Rechtsanwalt und Notar in Nordhausen. Wie viele andere verließ er die Sowjetzone und ging mit seiner Familie 1948 nach Düsseldorf. Auch dort hatte er eine Anwaltskanzlei bis zu seiner Pensionierung 1962. Für die FDP fungierte er von 1951 bis 1962 als Beigeordneter der Stadt Düsseldorf (Dezernent für Verkehr, Ordnung und Schulen), vorher von 1949 bis 1951 als Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes.
Allein diese Funktionen in Weimar und Düsseldorf belegen, welch’ hohe berufliche Reputation Senger hatte. Die negativen Äußerungen über seine Rolle als Nordhäuser OB waren von klassenkämpferischer Rhetorik geprägt, die auch in späteren Veröffentlichungen in den DDR-Jahren durchschlug. Letztlich dienten sie nur als Vorwand, um ihn und andere Vertreter des reaktionären Bürgertums aus allen Positionen zu verdrängen.
Über die Umstände der Absetzung soll ein Sohn Sengers – wie Peter Kuhlbrodt im Heft Nordhausen unter dem Sternenbanner schildert – berichtet haben: Der russische Kommandant zu Dr. Senger: ‚Ihre Stadt ist nicht in Ordnung.’-
‚Das weiß ich, sie ist zu 80 Prozent zerstört.’ - ‚Innerhalb von drei Wochen müssen Sie die Aufräumarbeiten durchgeführt haben!’ –
‚Das kann ich nicht!’ –
‚Wir können nicht nur erschießen, wir können auch hängen!’ –
‚Dann müssen Sie mit mir anfangen. Aber das bringt der Stadt auch keine Hilfe’.
Das Gespräch endete mit den Worten: Wo steht Ihr Dienstwagen? Sie können die Schlüssel gleich dalassen. Am Ende seiner kurzen Amtszeit äußerte Senger am 20. Juli:Die Abschnürung des Nordhäuser Wirtschaftsgebiets von der Westzone Deutschlands bedeutet eine ernste Gefahr für jeden Wiederaufbau und muß baldigst aufgehoben werden, wenn große Schwierigkeiten vermieden werden sollen. Manfred Neuber
Kommentare
alterNeunordhäuser
31.03.2019, 11.20 Uhr
Ist heute aber auch nicht anders
Wenn man sich das "Fachwissen" unserer Politiker ansieht, nenne keine Namen, denke aber z.B. an das Verteidigungsministerium...
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